Unter dem Ausstellungstitel Roots of Memory zeigt die Galerie Wolfgang Jahn in München aktuelle Arbeiten aus der Serie Ikarus von Hubert Scheibl, die in Kontext mit weiteren Werken der letzten Jahre gesetzt werden. Die Werkschau präsentiert damit einen verdichteten Einblick in das variantenreiche abstrakte Schaffen Scheibls, dessen individuelle Abstraktionen mit der Ikarus-Serie auch einen neuen stilistischen Ansatz erfahren haben.
Ovids Metamorphosen erzählen die Sage von Dädalus und Ikarus, Vater und Sohn, die sich für die Flucht vor ihrem Widersacher, König Minos, eine Flügelkonstruktion aus Federn und Wachs gebaut haben, um auf dem Luftweg aus dem Labyrinth des Minotaurus zu entkommen. Der Vater ermahnte Ikarus, nicht zu hoch und damit zu nah zur Sonne zu fliegen. Doch sein Sohn hörte nicht, stieg weiter in die Lüfte auf, wo die Hitze der Sonne das Wachs zum Schmelzen brachte und die Federn lose wurden, was schließlich den tödlichen Sturz des Ikarus ins Meer zur Folge hatte. „Übermut tut selten gut“ oder auch „Hochmut kommt vor dem Fall“ – so lautet die klassische Deutung des Mythos, der als Strafe der Götter für den nach der Sonne strebenden Ikarus verstanden wurde. Doch für Hubert Scheibl steht nach eigenem Bekunden Ikarus auch allgemein als ein Sinnbild des Umsturzes, des Zerfalls und Scheiterns bestehender Ordnungen und Systeme, gerade vor dem Hintergrund der Umbrüche, Irritationen und vorherrschenden Krisen der eigenen Gegenwart. Manchmal müssen Dinge zu einem Ende kommen, damit wieder etwas Neues entstehen kann.
In den Abstraktionen der Ikarus-Serie zeigt Scheibl freilich keine ausformulierten Bildgeschichten. Doch vermittelt er uns gerade in der ungegenständlichen Darstellung ein eindringliches Gefühl von der Dramatik der Tragödie, vom Eindruck des Stürzens, Fallens und Taumelns sowie ein intuitives Erahnen eines Flügelschlags wie auch Andeutungen des Federnlassens.
Vor chromatisch changierenden Farbnebeln, die die Hintergründe bilden und mystische Folien und Atmosphären schaffen, die man vage mit einem leuchtenden Himmel assoziieren könnte, setzt der Künstler mit breitem Pinselduktus Hiebe und malerische Kürzel als Farbakzente, farbige Schlieren und Farbbahnen, Schlaufen und Bänder, die in dynamisch-schwungvollen Gesten auf die Leinwand appliziert werden. Dabei treffen in diesen malerischen Bewegungsmustern unterschiedliche Farbtöne in Verläufen aufeinander.
Mal verdichtet sich die Komposition zu einem wie zusammengestauchtem und gebundenem Knäuel oder Klumpen am oberen Bildrand, von dem nach unten hin kleinere Farbakzente herunterrieseln. Die verkrampfte Anspannung der Situation von Ikarus, das Unbehagen und die Angst werden hier spürbar. Ein anderes Mal ist es ein tänzelnder Farben- und Formenreigen, fast in Gestalt einer sich um die eigene Achse drehenden, dreidimensional suggerierten Windhose. Dann wiederum sind es unterschiedlich gefärbte Bahnen, die wie Jalousien oder Vorhänge einen breiten Zug nach unten entwickeln. Ein weiteres Mal sind es Farbspuren, die wie Blätter im Herbstwind taumeln. Nie wird etwas eindeutig bezeichnet, und dennoch meint man mit dem Wissen um den Bildtitel zuweilen Ikarus‘ Federn in luftigen Höhen treiben, schweben und herabsegeln zu sehen und ebenso den malerischen Sog einer Abwärtsbewegung zu verspüren.
So lassen sich Scheibls Eindrücke und Gefühlswelten, die er mit dem Mythos verbindet, visuell nachvollziehen, insofern man bereit ist, sich darauf einzulassen. Ein Vergleich zur Musik drängt sich auf, die in ihren Kompositionen und Klangfarben – Begriffe, die sich Malerei und Musik teilen – ebenfalls die Dinge nicht konkret beschreibt, sondern sie auf eine intuitive, emotionale und unbestimmte Weise erfahrbar macht.
Auch in seinen Bildern, die nach berühmten cineastischen Weltraumepen und daraus entnommenen Filmzitaten benannt sind, wie etwa Solaris (1972), dem Meisterwerk von Andrei Tarkowski, das auf dem Roman von Stanislaw Lem (1961) beruht, oder auch dem Zitat This is a very nice drawing, Dave aus dem Weltraum-Epos 2001: Odyssee im Weltraum (1968) von Stanley Kubrick, greift Scheibl das Gefühl des Unbestimmten auf. Hier geht es doch in beiden Fällen um metphysisch-transzendente Phänomene, die man nur staunend in ihren Irritationen auf sich wirken lassen kann und die sich einer eindeutigen Erklärung entziehen.
Das Erscheinungsbild dieser Arbeiten ergibt sich durch Ritzungen, die der Künstler – vergleichbar einer Gravur – in die oberste weiße, monochrome Schicht seiner Bilder setzt und somit die zuvor aufgetragenen farbigen Unterschichten an diesen Stellen zum Vorschein bringt. Die Anordnung der so gesetzten Linien und Farbschlieren erinnert dabei mitunter an vegetabile Strukturen und den Prozess des Wachsens und Entfaltens der Natur. Gleichzeitig mag man sich erinnert fühlen an die Schilderungen des geheimnisvollen, die Dinge beeinflussenden Ozeans auf dem Planeten Solaris, der selbstständig bizarre, vielfarbige Formationen an seiner Oberfläche ausbildet.
In einer weiteren Werkserie mit dem Titel Ones zeigt Hubert Scheibl frei schwingende, gestische Bewegungsstudien, die er auf dem statischen Medium des Bildträgers in ihrer entfesselten Dynamik bannt. In ihrer zumeist V-oder U-förmigen Anordnung sind sie das Ergebnis einer gekonnten und zielsicher gesetzten, impulsiven Malbewegung mit sich abrupt ändernden Richtungswechseln. Ohne zwischenzeitliches Absetzen sind sie in nur einem malerischen Zug ausgeführt und verkörpern, schwerelos im Bildraum schwebend, eine seltsam und mysteriös anmutende Vitalität, der trotz aller Kraft etwas Fragiles anhaftet.
Scheibls Abstraktionen lassen sich analog zum versinnbildlichenden Mythos, der für ihn die Wurzel der Erinnerung darstellt, als Ausdruck des Geheimnisvollen, ja oftmals Unerklärlichen lesen. Sein Ansinnen gleicht dem, was der berühmte Physiker Albert Einstein einmal selbst für sich als Befund konstatierte:
„Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es liegt der Religion sowie allem tieferen Streben in Kunst und Wissenschaft zugrunde. Wer dies nicht erlebt hat, erscheint mir, wenn nicht wie ein Toter, so doch wie ein Blinder. […] Es ist mir genug, diese Geheimnisse staunend zu ahnen und zu versuchen, von der erhabenen Struktur des Seienden in Demut ein mattes Abbild geistig zu erfassen.“
Dr. Veit Ziegelmaier