Mit “At the Seams“ zeigt die Galerie Wolfgang Jahn erstmalig in ihren Räumlichkeiten eine Personale mit Werken von Michelle Jezierski, deren Schaffen bereits 2020 im Zuge der Ausstellung “Slices“ zusammen mit Arbeiten von Christine Liebich präsentiert wurde. Parallel zur Ausstellung erscheint ein Katalog ihres malerischen Oeuvres unter dem Titel “Simultaneous Spaces“ im DCV-Verlag. Die Amerikanerin, 1981 in Berlin geboren, wo sie auch heute lebt und arbeitet, studierte an der Universität der Künste in Berlin bei Tony Cragg sowie an der Cooper Union in New York.
Jezierskis Werk zeichnet sich durch einen unverkennbaren Individualstil mit hohem Wiedererkennungswert aus. Ihre weitgehend abstrahiert gehaltenen und dennoch Landschaften suggerierenden Arbeiten sind vielschichtige Dekonstruktionen der gewohnten Wirklichkeit, die zu einer faszinierenden Auflösung von Form- und Raumgrenzen führen. So lassen sich in ihren Bildern Ausschnitte und Fragmente von Ausblicken auf die Natur erkennen, die in ihrer kompositionellen Anordnung durch den gekonnten Kunstgriff einer bildinhärenten, einzelne Ebenen überlagernden und durchdringenden Streifen- oder Gitterstruktur ein räumlich losgelöstes, simultanes Eigenleben aufweisen und die Grenzen zwischen Oberfläche und Tiefe verschwimmen lassen.
Dabei kombiniert und variiert die Künstlerin in gänzlich individueller Weise Stilelemente zweier sich ursprünglich gegensätzlich zueinander verhaltener Kunstrichtungen, namentlich der des „Abstrakten Expressionismus“ und der “Hard Edge“- Malerei der 1960er Jahre. Während der „Abstrakte Expressionismus“ eine entfesselte, gestische und freie Malweise propagierte, bei der das sinnliche Erleben des Malprozesses in den Vordergrund rückte, verstand sich die “Hard Edge“- Malerei als eine streng rationale und auf eine vorwiegend geometrische Formensprache setzende Gegenbewegung, die sich durch einen schablonenhaften, scharf konturierten Farbauftrag auszeichnete, der die Formen durch akkurate Abgrenzung klar voneinander absetzte.
In Jezierskis Bildern zeigt sich einerseits ein frei aufgefasster gestischer Pinselduktus in den Farbkompositionen, die wiederum Landschaftselemente wie bewaldete Berge und Täler, Blüten, Felder sowie Wolkenformationen und dergleichen mehr suggerieren. Dabei setzt die Künstlerin verstärkt auf einen flüssigen, oftmals transparent wirkenden Farbauftrag, der mit seinen in- und auseinanderdriftenden fließenden Formen an Gestaltungsprinzipien der Aquarellmalerei erinnert. „Panta rhei“, alles fließt, so möchte sagen und es scheint hier mehr als nur ein gestalterisches Element zu sein. Denn die Fließbewegungen des Farbauftrags vermitteln nicht nur den Eindruck von Dynamik, sondern lassen sich auch sinnbildlich und übertragend als formale Auflösung solider Strukturen lesen.
In dieser Loslösung von einer rigiden festgefügten Körperlichkeit zeigt sich eine neu gewonnene Leichtigkeit und damit einhergehend eine Veränderung des Aggregatzustandes von Landschaft durch die Malerei hin zu einer feinstofflich empfundenen Existenz, die auch durch die transparente, oftmals pastellhafte Farbigkeit gefühlt an Masse verliert. Dazu passt, dass die Künstlerin bewusst keine detaillierte Wiedergabe eines tatsächlich topografisch zu verortenden Landstrichs gibt, sondern eher die Essenz einer Landschaft wiedergibt, also abstrahierte Erinnerungsbilder schafft, die mehr einen vagen Gesamteindruck vermitteln als tatsächlich zum Greifen nah zu sein.
Durch die nahtartige Fragmentierung und Zusammenführung der Bildelemente in eine Folge zumeist klar voneinander abgegrenzter Streifen, die vorwiegend einer vertikalen, manchmal auch einer horizontalen Ausrichtung folgen und zuweilen als Bildfelder auch unterschiedliche Breiten einnehmen, entsteht bei Jezierski, neben einer streng rhythmisch gegliederten Struktur, die im deutlichen Gegensatz zur freien Malweise steht, ein regelrecht komplexes Kompositionsprinzip, das bewusst auf einen Verfremdungseffekt setzt. Zunächst wirken die Bilder irritierend, vielleicht sogar verstörend und befremdlich. Man kommt nicht umhin zu denken, man blicke als Betrachter wie durch die Gitterstäbe einer beklemmenden Zelle von Innen nach Außen und erhalte durch die Sehbeeinträchtigung des Gestänges nur einen fragmentierten Ausblick auf das Panorama einer Landschaft. Zwar sind die in ihrer Erscheinung zumeist klar konturierten Streifen tatsächlich eine visuelle Barriere, aber nicht im Sinne eines soliden Körpers, sondern sie definieren als geometrisch abstrakte Elemente und zugleich abgegrenzte Bildflächen die Aufteilung des Malgrunds. Dadurch entsteht bei Jezierski ein Zerrbild der ohnehin schon abstrahierten Wirklichkeit und zugleich auch immer wieder eine Art von Vexierbild.
Denn bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass die Flächen der Streifen leicht durchscheinend wirken. Manchmal gewinnt man den Eindruck, die durch sie vermeintlich verdeckten Teile im Hintergrund würden wie durch Milchglas in leicht veränderter Farbigkeit durchschimmern. Dann jedoch rücken an anderer oder direkt benachbarter Stelle Landschaftselemente des angenommenen Hintergrundes fast schon sprunghaft wieder in die als Vordergrund wahrgenommene Bildfläche, wo man sie gerade nach der bisherigen Seherfahrung nicht vermuten würde. Zudem sind die aneinander gesetzten Ausschnitte der Natur, die wie einzelne Momentaufnahmen wirken, in ihren unmittelbaren Anschlüssen leicht zueinander versetzt, ein weiteres Irritationsmoment, das sich der Kontinuität der Darstellung im Sinne einer lückenlosen Visualisierung widersetzt. Letzteres Gestaltungselement verfolgte auch bereits Georg Baselitz Ende der 1960er Jahre in seinen aus malerisch zueinander versetzten Abschnitten zusammengefügten „Frakturbildern“, um mittels dieses Kunstgriffs der „fatalen Abhängigkeit zur Wirklichkeit“ zu entkommen.
Und dann erkennt man bei Jezierski auch immer wieder einen freien, nicht weiter von zugeteilten Bildflächen begrenzten Farbauftrag auf der obersten Schicht des Bildes. Somit ist eine klassische Einteilung des Bildraumes in Vorder-, Mittel- und Hintergrund nicht mehr länger gegeben und aufrechtzuerhalten. Die einzelnen Ebenen des dargestellten Davor und Dahinter durchdringen sich abwechselnd räumlich und formal, werden zu einem parallelen und gleichberechtigten Kompositionsgefüge und finden dergestalt zu einer simultanen Koexistenz an der Oberfläche des Bildes. Trotz der fragmentierten Illusion von Räumlichkeit kommt es damit in der bildlichen Einheit zu einer Auflösung der Raumgrenzen von Distanz und Nähe in der zweidimensionalen Fläche.
Damit einher geht auch die Suggestion der Auflösung von Zeitlichkeit. Das Ferne und Zukünftige wird zur Gegenwart, das zum Greifen nahe entschwindet und widersetzt sich einer Kontinuität der Chronologie. Dies alles passiert bei Jezierski „an den Nähten“, wie sich der Ausstellungstitel rein wörtlich übersetzen ließe, ihrer Bildstreifen. Doch ist die treffendere idiomatische Übersetzung die der sprichwörtlichen Redensart des „aus den Fugen“ – Geratens. Und in der Tat ist die angedeutete Wirklichkeit bei Jezierski brüchig geworden, wobei auch insbesondere hier wieder einmal mehr das aristotelische Diktum gilt, dass das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Einzelteile.
Jezierski zerstört nicht „gewaltsam“ den Raum, der mit der Entwicklung der Zentralperspektive zu Beginn des 15. Jahrhunderts in die Kunstgeschichte Einzug hielt. Sie löst ihn behutsam auf, indem sie Raum- und Zeitgrenzen simultan verschwimmen lässt. Insofern ist man beim Betrachten ihrer Bilder auch geneigt, einen Hinweis oder Ausblick auf das Konzept des Erhabenen, ja der Transzendenz erhaschen zu können. Jenen Moment, in dem sich der Bezug und die Verbundenheit zur eigenen Körperlichkeit mit dem letzten Atemzug verflüchtigt.
Dr. Veit Ziegelmaier