Grenzenlos
Mit der Gruppenausstellung „Grenzenlos“ zeigt die Galerie Wolfgang Jahn in München einen repräsentativen Querschnitt aus ihrem Portfolio von Künstlerinnen und Künstlern mit einer Auswahl jeweils aktueller Arbeiten. In pandemischen Zeiten wie diesen, die vor allem auch den Kulturbetrieb und seine Angebote notgedrungen stark beschneiden, lässt sich der gewählte Titel bewusst mehrdeutig lesen. So zielt der Begriff „Grenzenlos“ vor allem auf die Beschreibung und Aufgabe der Kunst ab, vielfältig zu sein, Grenzen auszuweiten, sie zu sprengen mit uneingeschränkter Fantasie und Gedanken, die frei sind. Insofern kann gerade die Hinwendung zur und die Beschäftigung mit Kunst in der aktuellen Lage für das eigene Gemüt heilsamer denn je sein, (Zu-)Flucht bieten und in dieser Ausnahmesituation vielleicht helfen, den eigenen Kompass in Richtung Empfindsam- und Achtsamkeit neu zu justieren. Dass es sich hierbei nach all den Einzelpersonalen in beiden Dependancen der Galerie um eine Gruppenausstellung handelt, in der figurativ und abstrakt arbeitende Künstlerinnen und Künstler aus unterschiedlichen Nationen und Regionen nun gemeinsam und dennoch jede(r) auf seine / ihre individuelle und sich voneinander „abgrenzende“ Art zusammenkommen, ist zudem zum jetzigen Zeitpunkt ein Statement für Solidarität und gemeinschaftlichen Zusammenhalt in der Krise um der Notwendigkeit der Kunst willen.
Die Ausstellung vereint dabei etablierte Positionen wie Jiri Georg Dokoupil, Rainer Fetting, Harding Meyer, Hermann Nitsch, Hubert Scheibl, Martin Schnur, Martijn Schuppers, Leif Trenkler und Bernd Zimmer – mit Shooting-Stars wie Michael Sailstorfer und neuen, aufstrebenden Positionen der Galerie wie Michelle Jezierski und Christine Liebich.
Dabei treffen Scheibls ausdrucksstarke gestische Abstraktionen, die sich assoziativ als malerisches Echo der elementaren und unbändigen Triebkräfte der Natur mit ihrem Drang zur (Selbst-)Entfaltung aber auch der stetigen Erneuerung und Umwälzung bestehender Zustände interpretieren lassen auf die kosmischen Bildwelten eines Bernd Zimmers. Eines dieser Werke entführt den Betrachter auf eine Reise in eine ferne, energetisch aufgeladene Galaxie der Fantasie voll erhabener, funkelnder Schönheit und mystischer Faszination mit der gefühlten Sogwirkung eines Schwarzen, alles verzehrenden Lochs.
Die Arbeiten korrelieren mit einem der Seifenblasenbilder von Jiri Georg Dokoupil, in denen er nicht nur ähnlich schillernd-wabernde Strukturen den Bildraum erfüllen lässt, sondern diese tatsächlich mittels mit Pigmenten angereicherten und auf dem Bildträger zerplatzenden Seifenblasen kreiert und danach weiterbearbeitet.
Dazu gesellt sich eine der faszinierenden Plastiken von Paul Schwer, deren Gestalt wie organisches Wachstum anmutet. In einem speziellen Verfahren formt der Künstler farbige Kunststoffplatten in nur kurzer Zeit unter entsprechender Hitzeeinwirkung zu plastisch blütenhaften Gebilden, in denen der dynamische Prozess der Herstellung auf Dauer konserviert bleibt.
Expressiv und ausdruckstark sind auch die trotz abstrahierender Tendenzen der Figuration verpflichteten Arbeiten von Rainer Fetting. Auch er bezieht sich in einer sturmgepeitschten Nordseelandschaft mit tosender Brandung auf die elementaren Kräfte der Natur, die er eindringlich mit grob gesetzten Pinselhieben zu aufgewühlten Wellen und Schaumkronen verdichtet und diese mit lasierenden Farbverläufen kontrastiert, die den spürbaren Eindruck von Nässe im Bild festhalten. In einer anderen, beiläufigen Dramatik des Alltags ist es ein autofahrender Mann, der mit den Scheibenwischern der Frontscheibe den durch die Art und Weise des Farbauftrags und dessen Konsistenz schier fühlbaren Matsch und Regen aus seinem Sichtfeld zu bannen sucht. Angestrengt durch sein Tun, verzerrt sich sein Antlitz hinter dem Sichtfeld der verschmutzen Scheibe, während die Wischer den assoziierten Matsch am linken Bildrand zu einer abstrakten Farbmasse bündeln. Eindrucksvoll auch das expressiv-authentische Porträt einer leicht skeptisch und argwöhnisch wirkenden Frau, die den Blick des Malers und Betrachters selbstbewusst standhält. In der gestischen Ausführung gnadenlos ehrlich und ohne beschönigenden Firlefanz gerät das aus zwei unterschiedlichen Formaten zusammengesetzte ganzfigurige Dreiviertelporträt über die bloße Ähnlichkeit hinweg zu einer wahren Charakterstudie der dargestellten Person.
Einen Raum weiter begegnet man den kreisrunden Wandobjekten von Christine Liebich, in denen zackenartige ornamentale Strukturen mit räumlichen Aussparungen kunstvoll zu leicht von der Wand abgesetzten Tondi kunstvoll vereint werden. Dabei bedient sich Liebich einem ungewöhnlichen Material: Ihre stabförmigen Strukturen sind von ihr zurechtgeschnittene, nachträglich pulverbeschichtete Armierungseisen, wie man sie zur Stabilisierung im Stahlbeton verwendet. Ein Material, das, unabhängig von der Ästhetik ihrer Kunst, klassischen und „edlen“ Bildhauerwerkstoffen wie Marmor widerspricht.
Im Raum treten Liebichs Tondi in Dialog mit weiteren Variationen von Seifenblasenbildern Dokoupils und einer sich in die Höhe windenden Plastik von Paul Schwer, die Assoziationen an eine betörend farbige Blüte hervorruft.
Es folgt ein Ensemble aus neueren Schüttbildern von Hermann Nitsch, einem der zentralen Hauptvertreter des Wiener Aktionismus. Im Gegensatz zu seinen früheren Arbeiten sind diese nun durch eine deutlich gesteigerte farbliche Intensität charakterisiert. In ihnen kombiniert Nitsch die explosionsartigen Strukturen seiner wuchtigen Farbschüttungen mit der ausdrucksstarken Dynamik ekstatisch-sinnhafter Fingermalerei, deren Ergebnis die vormaligen Strukturen wie unter einer pastos-verdichteten, leuchtenden Farbmasse begräbt. Diese Arbeiten lassen ein spannungsreiches, intensives Zeugnis künstlerischer Aktion zurück, eine aufwühlende Abstraktion emotionaler Zustände mit dem Zweck, frei und ungehemmt das Leben im Reiz und der Ästhetik seiner entfesselnden Extreme zu feiern.
Weitere Weltall-Bilder von Bernd Zimmer werden gegenübergestellt. Dabei handelt es sich um Abstraktionen aus sich überlagernden und ineinanderfließenden Farbverläufen, die letztlich wie kosmische Gaswolken oder eine Supernova anmuten.
Gepaart werden diese Werke im Raum u.a. mit einer “Brain“-Plastik von Michael Sailstorfer, ein aufgesockeltes Objekt aus einem mehrfach um sich selbst gewundenen Seil, das in dieser Formation an menschliche Gehirnwindungen erinnert. In durchaus ironischer Weise mag man hier eine Art imaginäres Tauziehen endlos um sich selbst kreisender Gedanken erkennen, ganz im Sinne eines steten Bemühens um das Verständnis der Welt. Ein geistiger gordischer Knoten.
Weitere Werke in der Ausstellung zeigen die Farbwelten Martijn Schuppers, die zuweilen wie surreale Satellitenaufnahmen von farbig glühenden Landschaften unter vorbeiziehenden Wolkenbändern- und strudeln wirken. Es sind Kompositionen, die auf klar definierte Formen bewusst verzichten und den reinen Farbauftrag in ineinander und auseinanderdriftenden Schlieren und Schichten zum zentralen Motiv erheben. Sie entstehen durch ein Auf-und Ablösen und Verflüssigen von Acryl- und Ölfarbschichten durch den Einsatz von Terpentin.
Der Brasilianer Harding Meyer dagegen erkundet die Topographie von Gesichtern. Als Vorlagen dienen ihm vor allem inszenierte Bilder aus den Massenmedien und dem Internet, die er durch seine malerische Umsetzung monumentalisiert, um ihnen ihren ephemeren und beliebigen Charakter zu nehmen und sie gleichzeitig in ihrer gestellt immanenten Posenhaftigkeit zu hinterfragen. Das Porträt auf der Bildoberfläche der Leinwand lässt so tief hinter die eigene Oberflächlichkeit des Porträtierten blicken.
Der Österreicher Martin Schnur fasziniert auch in dieser Ausstellung mit seinen hyperrealistischen bizarren Bildwelten, in denen er unterschiedliche Realitätsebenen wie einander durchdringende Traumsequenzen vermischt und zu einem nicht selten rätselhaften Ganzen unterschiedlich verwobener und aufeinander bezogener Szenerien zusammenfügt. So entstehen irritierende Momente der Begegnung von Mensch, Natur und Außenwelt, in denen das menschliche Wesen wie ein Fremdkörper seltsam isoliert und für sich erscheint. Doch wie im Traum hat hier alles für den Moment seine Berechtigung und Richtigkeit, ehe man daraus erwacht und die Dinge wieder nüchtern sieht.
Vergleichbar und doch anders wirken die farbprächtigen, unbeschwert sommerlichen Idyllen von Leif Trenkler. Fast schon märchenhaft entrückt und beseelt zeigt er in bewusst verklärender Weise karibische oder mediterrane Sehnsuchtsorte mit zuweilen traumhaften Villen und Poollandschaften, in dem sich isolierte Figuren dem einzigartigen Moment der Ruhe und Muße hingeben. Und dennoch scheinen diese, wie aus einem imaginären Reiseprospekt entnommenen inszenierten Traummotive, seltsam entfremdet und artifiziell. So wie eine Modeleisenbahnlandschaft, in der Realität lediglich als detailgetreues miniaturisiertes Abbild einer nun „unwirklich“ gewordenen Wirklichkeit wiedergegeben wird.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage erfahren gerade diese Bilder eine trotz allem irreal anmutenden Harmonie – so wie auch andere Werke innerhalb der Ausstellung – eine zusätzliche zeitbezogene Deutungsebene. Dieser neue Blick auf die Dinge zeigt sich auch schon unmittelbar am Anfang der Ausstellung in den beiden Bildern von Michelle Jezierski. Ihre wie aus vertikalen Streifen und farbigen Bahnen zusammengesetzten Malereien angedeuteter und zueinander versetzter Landschaftsfragmente mit ihrem ästhetischen Reiz eines wechselnden Vor- und Dahinter erscheinen wie der Blick durch Barrieren oder überspitzt formuliert: durch Gitterstäbe. Der ohnehin schon seit jeher gehegte Wunsch nach grenzenloser Freiheit erhält hier noch einmal eine vielleicht sogar unbeabsichtigte neue Dimension und Aktualität.
Dr. Veit Ziegelmaier
Diese Ausstellung wird von der Stiftung Kunstfonds als Teil des Programms NEUSTART KULTUR gefördert.