Die berührte Idylle
Die sinnlich-intensiven Bildwelten von Martin Schnur
Günther Oberhollenzer
Es ist immer nur ein Mensch zu sehen. Einsam, auf sich selbst zurückgeworfen, in sich versunken nimmt er uns Betrachter*innen kaum wahr, lebt in seiner eigenen (malerischen) Welt. Meist sind es Frauen, hin und wieder auch Männer, oft sind sie nackt, unseren Blicken ausgeliefert. Das scheint sie nicht zu stören. Sie stehen oder liegen, mit aufgestützten Händen, auf glatten, spiegelnden Flächen, die zu einer Verdoppelung ihrer Körper führen. Um sie herum sehen wir Ausschnitte einer reichen Naturlandschaft, die aber einer anderen Wirklichkeit anzugehören scheinen. Martin Schnur versteht es, reiche, künstlerische Bildwelten zu erschaffen, in die wir gerne eintauchen, um dort zu verweilen.
Verschiedene Realitätsebenen, raffiniert zu einem Ganzen zusammengesetzt, sind ein immer wiederkehrendes Merkmal vieler Gemälde des österreichischen Künstlers. In eine Landschaft wird eine zweite, klar begrenzte Bildebene mit Menschen eingeschoben. In einem Interieur öffnet sich, einem Fenster gleich, eine Ansicht in den Außenraum: Mit darstellerischer Finesse fügt Schnur mehrere Motive zu einem Bild zusammen und belässt sie dennoch autonom.
Martin Schnur, der ursprünglich Bildhauerei studierte, hat sich das Handwerk des Malens selbst beigebracht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Inszenierung des Körpers im Raum, das Spiel von Fläche versus Dreidimensionalität, eine große Rolle in seinen Werken spielt. Die Überblendung der Räume und Atmosphären, die Ambivalenz von geometrisch eingegrenzten Feldern verleiht den Kompositionen eine starke Tiefenwirkung sowie, Vexierbildern gleich, hohe Spannung und Intensität. Verbindendes Element sind die facettenreichen Spiegelungen und insbesondere die ausgeklügelten Lichtstimmungen – ja, das Licht ist ein zentraler Protagonist der Bildkomposition. Hier ist Schnur ganz Maler und emanzipiert sich von einer bildhauerischen Weltsicht.
Die sterilen Innenräume kontrastieren formal wie inhaltlich mit den farbenfrohen Landschaften. Der Mensch ist mittendrin und außenstehend zugleich. Er wird in die Natur geworfen und scheint doch nicht Teil von ihr zu sein. Er spiegelt sich lieber in seinem eigenen Antlitz. Nimmt er die ihn umgebende Schönheit des Waldes nicht wahr? Ist dieser außerhalb seines Lebensbereiches? Klingt hier eine Kritik an einer Ich-bezogenen Weltsicht durch, an einem Menschen, der den Bezug zur Natur verloren hat?
Nur einmal, in „#Barriere 2“, scheint die nackte, weibliche Figur derselben Realität wie die Landschaft anzugehören. Die Frau geht vorsichtig über eine Wasserpfütze, Holzstämme wirbeln wild durch die Luft, im Hintergrund sind dunkle Baumsilhouetten zu erkennen. Anders das Spiegelbild: Die warme Sonne bricht durch das saftige Grün der Bäume und taucht den Wald in ein warmes, harmonisches Licht.
Am Beginn der künstlerischen Arbeit stehen für Schnur Erkundungstouren nach geeigneten Orten und die Auswahl der Modelle. Letztere kommen meist aus dem Freundes- und Bekanntenkreis des Künstlers. Als Interieur wählt er Abrisshäuser und leerstehende Wohnungen, als Landschaft sucht er, soweit noch vorhanden, eine möglichst unberührte Wildnis: naturbelassene Wälder, Flussläufe, Teiche, und findet diese oft in den Donauauen in der Nähe von Wien.
Zusammen mit dem Modell und der Kamerafrau Daniela Beranek (mit der er schon seit vielen Jahren zusammenarbeitet) und unter Zuhilfenahme eines großen Spiegels wird dann das ideale Setting für fotografische Aufnahmen eingerichtet. Diese werden akribisch vorbereitet, auch Posen und Gesten sind nicht zufällig oder improvisiert, sondern sorgsam inszeniert. Aus den so entstandenen Abbildern schöpft Schnur Inspiration für seine Malereien und transformiert sie zu mehrschichtigen Kompositionen jenseits rein fotorealistischer Bildwerke.
Spielerisch arbeitet der Künstler mit unterschiedlichen Größenverhältnissen (zarte Spinnennetze und kleine Blätter erscheinen riesengroß) und Lichtstimmungen (der künstlich beleuchtete Innenraum trifft auf das natürliche Sonnenlicht). Er kippt Bildausschnitte in beliebige Richtungen und abstrahiert figurative Details. „Als Maler darf ich das“, betont Schnur mit einem Augenzwinkern.
Beschauliche Teiche, wild wuchernde Bäume und Sträucher, in warmes, diffuses Sonnenlicht getaucht, dessen feine Strahlen durch die Äste und Blätter fallen: Die gemalten Landschaften Schnurs geben den Anschein, rein und von der Zivilisation unberührt zu sein. Sie wirken idyllisch, fast unwirklich schön. Die Natur wird durch das bewusste Sehen des Künstlers zur Landschaft, zu seiner ganz persönlichen Landschaftsschau.
Diese Landschaft berührt den Menschen in seinem Innersten, sie dient als Bedeutungsträger für Natur, für Zivilisationsferne oder auch für eine Paradiesvorstellung. Einerseits scheint sie vertraut, andererseits bleibt sie aber in ihrer Eigengesetzlichkeit, ihrer Unabhängigkeit oder auch ihrer Unheimlichkeit unnahbar fremd. Schnurs Landschaften bieten keine weiten Panoramen und Perspektiven, wie wir sie aus der Romantik kennen, sie sind ausschnitthaft und fragmentarisch, nah am Holz, am Wasser, an den Blättern. So vermeidet er eine verklärte Bedeutungsaufladung und erfreut sich vielmehr an der unerschöpflichen Formen- und Farbenvielfalt der Natur: als geeignete Kulisse für sein virtuoses Spiel mit Licht und Schatten, mit Spiegelungen und Schattierungen.
Noch einmal zurück zu den dargestellten Menschen: Eher jung, in legerer Kleidung oder auch nackt befinden sie sich meist im Bildvordergrund. Dabei wirken sie aber keineswegs selbstbewusst oder gar dominant. Verletzbar und ungeschützt stellen sie sich unseren Blicken und bleiben doch unnahbar und fremd. Sie scheinen in sich ruhend, in Gedanken versunken, manchmal auch melancholisch abwesend oder entrückt, einem anderen Zeit- und Raumgefühl folgend.
In verschiedenen Posen verharrend, ist ihr Tun wie eingefroren, als ob sie kurz innehalten oder auf etwas warten. Die Figuren wirken ohne erzählerischen Kontext isoliert; fragil, in sich gekehrt und still treten sie meistens nicht mit uns Betrachter*innen in Kontakt, oft von uns abgewandt, wird jegliche Kommunikation verwehrt. Der Mensch hinter der Abbildung ist nicht fassbar, sein Charakter, sein Wesen bleiben im Verborgenen.
Die Gemälde haben nur etwas bedingt porträthaftes, denn die Funktion eines Porträts – Darstellung körperlicher Ähnlichkeit, aber auch Erfassung der Persönlichkeit – steht nicht im Mittelpunkt. Die Dargestellten sind zwar Individuen, gleichzeitig können sie aber auch als Sinnbilder für die Vereinzelung des Individuums an sich gesehen werden: isoliert, introvertiert, meist eher passiv. Greift Schnur hier also ein Lebensgefühl unserer Zeit auf? Der Künstler lässt es bewusst offen, möchte in seinen Bildern nicht zu eindeutig sein.
Außergewöhnlich ist der Malgrund bei mehreren kleineren Arbeiten. Schnur bemalt Kupferplatten, ein von den alten Meistern gern verwendetes Material, das in der zeitgenössischen Kunst aber nur sehr selten Verwendung findet. Zu Unrecht, wie uns der Künstler eindrücklich beweist: Die glatte Oberfläche erfordert einen anderen malerischen Duktus als eine klassische Leinwand. Und der immer wieder zart durchschimmernde Farbton des Kupfers verleiht den Bildern einen besonderen visuellen Reiz. Die Malereien leuchten.
Auffallend sind drei Arbeiten, die thematisch etwas aus dem Rahmen fallen. „Hitze #1 – 3“ zeigen einen brennenden Wald, dichte Rauchschwaden, verkohlte Hölzer, spürbare Hitze: Mensch und Natur sind nun in einem Bild vereint, doch das verheißt nichts Gutes. Die Waldbrände in Brasilien seien der Auslöser für die Serie gewesen, so der Künstler. Die Zerstörung des brasilianischen Amazonas-Regenwaldes durch Brandrodung hat in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. Schnur geht achtsam mit dem Thema um. Seine Motive sind einfach, aber wirkungsvoll: Wir sehen den kleinen Menschen vor der Kulisse des gewaltigen Urwaldes oder nahe herangeholt, inmitten noch aufflackernder Brandnester.
Die Bilder bleiben mehrdeutig. Wird hier ein Brand gestiftet oder gelöscht? War es womöglich ein nicht von Menschenhand ausgelöstes Feuer, vielleicht hervorgerufen durch große Hitze als Folge der Klimaerwärmung (wodurch indirekt wieder der Mensch verantwortlich wäre)? Auch diese Frage soll unbeantwortet bleiben. Und auch hier setzt Schnur mit einem kleinen Akzent das uns nun schon bekannte, so versierte Spiel mit verschiedenen Realitätsebenen fort.
Eine silbern leuchtende, rein geometrische Fläche schiebt sich, einem Fremdkörper gleich (oder ist es ein Spiegel?), in die Komposition und verleiht den Bildmotiven einen artifiziellen Charakter. Mit dem hierfür verwendeten Weißgold gelingt ihm eine schöne kunstgeschichtliche Referenz: In der frühchristlichen, byzantinischen und mittelalterlichen Kunst ist das Material Gold von zentraler Bedeutung. Im 15. Jahrhundert verschwindet es aus den Ateliers und wird erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Künstler*innen als Ausdrucks- und Bedeutungsträger wiederentdeckt. Seitdem erlebt Gold als Farbe und Material eine „Renaissance“, die bis in die Gegenwart andauert.
Schnur weiß um die Bedeutung dieses so besonderen Materials, um seine starke Anziehungskraft und Faszination. Er weiß um seine anhaltende Kostbarkeit und Beständigkeit, seine transzendentale Aufladung, seine einzigartige Licht- und Farbwirkung. Und er weiß es für seine Bildwelten zu nutzen. Das Goldband stört das figurative Bild und kennzeichnet es gleichzeitig als einen malerischen Akt. Wir sehen nicht die Realität, wir sehen auch nicht eine Abbildung davon.
Wir sehen die Realität der Malerei. Denn letztendlich geht es dem Künstler vor allem darum: ein gutes Bild zu malen. Natur und Mensch dienen als Versuchsfeld für eine Malerei, die mit Licht und Schatten, Fläche und Raum poetisch wie sinnlich eine neue Wirklichkeit erschaffen kann.
So malt Martin Schnur Menschenbilder, distanziert und unnahbar und doch auch von stiller Intimität. Er malt Naturbilder, ausschnitthaft und fragmentarisch, voller Licht und leuchtender Farben, auch wild und ungezügelt. Stets meisterlich umgesetzt, sinnlich, farbintensiv und von unverwechselbarer Handschrift getragen. Bilder, die uns erfreuen wie berühren und noch lange nachwirken.