Erinnert sich noch jemand an die merkwürdige Debatte, die vor einigen Jahren durch die Kunstblogs und -zeitschriften geisterte, wobei ein Phänomen im Zentrum stand, das als „Zombie-Abstraktion“ oder „Zombie-Formalismus“ bezeichnet wurde? Angestoßen wurde diese Diskussion insbesondere durch einen Artikel des Kunstkritikers Jerry Saltz im New York Magazine, der die Frage behandelte, wie es komme, dass sich so viele aktuelle abstrakte Bilder zum Verwechseln ähnlich sähen, oft dekorativ und langweilig wirkten, wie saft- und kraftlose Wiedergänger altbekannter Konzepte abstrakter Malerei.* Die Debatte, die dieser Artikel befeuerte, drehte sich um die ernste Frage, ob es in der nichtgegenständlichen Malerei überhaupt noch Neuland zu entdecken gäbe oder ob nicht vielmehr ihre Möglichkeiten im Prinzip ausgeschöpft und alle Pfade in diesem Feld längst ausgetreten seien.
2014, just in dem Jahr, in dem Saltz' Artikel erschien, begann Laura Aberham ihr Studium der Malerei an der renommierten Kunstakademie ihrer Heimatstadt Düsseldorf, wo sie sich bald schon ausschließlich eben jenem in die Debatte geratenen Feld der abstrakten Malerei widmete. Schon die frühen Akademie-Bilder zeigten ihren besonderen Fokus auf Farbe, Farbkontraste, Farbwirkung und -texturen. Zunächst experimentierte sie mit Kontraststeigerungen mithilfe von Collageelementen, die sie in ihre Malerei einbrachte, dann mit Transparenzphänomenen, die sich aus der Kombination von unterschiedlichen Materialien wie Tusche, Öl- und Acrylfarbe erzielen ließen. Seit etwa 2018 fokussierte sie sich auf die Arbeit mit Acrylfarbe und entwickelte einen eigenen Personalstil, mit dem sie ihre Vorstellungen von prozessbasierter, intuitiver Malerei verwirklichen konnte. Spätestens mit dem Abschluss ihres Studiums 2019 hatte dieser Stil ein markantes Profil angenommen: dynamische, farbstarke und überaus komplexe Bildanlagen, deren auffälligstes Kennzeichen breite, geschwungene, oft wellenförmig durch das Bildfeld eilende, einander mehrschichtig überlagernde Farbbahnen sind.
Aberhams Arbeiten mögen vielleicht noch gewisse Rudimente des abstrakten Expressionismus oder Informel in ihrer DNA haben, doch sie teilen in keiner Weise die subjektivistische Haltung und das existenzielle Pathos dieser Kunststile der Nachkriegszeit. Hier werden nicht die Stimmungslagen der Künstlerin verhandelt, wird keine psychologische Selbsterkundung betrieben. Sie konzentrieren sich ganz auf den Prozess des Malens selbst und die Abenteuer und Irrfahrten, die die gemalte Farbe dabei durchlebt. Farbe hat bei Laura Aberham eher die Qualität einer Naturkraft als die einer existenziellen Metapher. Wenn die Künstlerin 2019, im Jahr ihres Abschlusses an der Akademie, Bildtitel wählte wie „Welle“, „Sturm“ und „Aufbruch“, dann sagte das sehr viel über ihr dynamisches Malereiverständnis aus. Doch längst nicht alle ihre Arbeiten tragen überhaupt Titel; eine gewisse Skepsis gegenüber dem sprachlichen Zugriff auf ihre Bildwelten ist ihr anzumerken. Der Frage danach, was ihre Bilder denn „bedeuten“, steht sie mit Unverständnis gegenüber. Und das völlig zu Recht, denn dieser Malerei geht es nicht darum, gedeutet und verstanden, sondern in der sinnlichen Präsenz ihrer Erscheinung gesehen und erlebt zu werden.
Dass Laura Aberhams Zugang zur Malerei sehr viel ihrer Akademielehrerin Katharina Grosse verdankt, ist nachvollziehbar. Darauf weist sie selbst immer wieder hin. Grosses Malerei ist zweifellos eine der avanciertesten Positionen im aktuellen Feld der Abstraktion. Von ihr hat Aberham die Ermutigung zu einem freien, spontanen Zugriff auf den Umgang mit Farbe bekommen – und ist doch, wie das anders auch nicht sein kann, eigene Wege gegangen. Während Grosse seit langem die Tendenz zum Ausgriff der Malerei in die Bereiche der Dreidimensionalität, das heißt plastischer Strukturen, installativer Arrangements und architektonischer Strukturen zeigt, hat ihre Schülerin sich bislang ganz auf die Fläche, das bemalte Rechteck kapriziert. Sehr vereinfacht gesagt: Wo Katharina Grosse die Malerei in den Raum trägt, ist es Laura Aberham darum zu tun, Räumlichkeit im Bild zu erzeugen. Diese Bildräumlichkeit ist äußerst komplex, mehrdeutig und kaum in allen Aspekten erfassbar. Die Schichtungen der verschiedenen Pinselstriche und Farbaufträge, die optisch nach vorne drängenden oder sich zurückziehenden Eigenfarben der einzelnen Komponenten, sowie die unterschiedlich feinen oder dichten Transparenzstufen der Acrylfarbe schaffen in der Summe ein überaus vertracktes, in der Summe das Betrachterauge regelmäßig überforderndes Bildgeschehen.
Die vertikal-horizontale Begrenzung des Bildrechtecks, die in der formalistischen Auffassung des abstrakten Bildes stets maßgebend für deren Binnenstruktur ist, ignoriert Laura Aberham souverän. Bei ihr wirken die Bildränder stets wie zufällige, für die Komposition selbst nicht konstitutive Grenzen. Die Bildfelder erscheinen wie momenthafte Ausschnitte aus einem viel größeren Kosmos von Möglichkeiten, der sich in ihrem imaginären Umfeld unbegrenzt ausdehnt. So kommt der breite Pinselstrich in „Untitled 1623“ von 2023 scheinbar von außen, tritt in der linken oberen Bildecke in die Sichtbarkeit, schwingt durch das Bildfeld, um dann in breitem Fluss nach unten wieder zu verschwinden. Und so irren die weißen gesprayten Linien in „Komposition Blau“ (2022) durch das sichtbare Bild, um sich dann über die Seitenränder wieder in unbestimmte Weiten zu verlieren.
Die paradoxe Bildräumlichkeit in Laura Aberhams Arbeiten ergibt sich aus der Fülle, ja Überfülle an Bewegungen, die sich in ihr manifestiert. In einem Bild wie „Frei“ von 2022 finden sich durchaus auch statische Elemente wie die opak ausgemalten rosa Formfragmente im rechten oberen Bildviertel. Sie markieren einerseits die materielle Oberfläche der Leinwand – und werden andererseits paradoxerweise doch wieder von einer schwingenden Farbwelle überschritten. Solche statischen Inseln in einem Meer von Bewegung hat die Künstlerin in den letzten Jahren immer wieder als Halte- und Orientierungspunkte für die Betrachtung in ihre Arbeiten eingefügt. Auf den neueren Arbeiten, die in diesem Katalog zu sehen sind, sind sie jedoch bestenfalls auf winzige Fragmente reduziert, falls überhaupt vorhanden. Das dynamische Moment hat eindeutig die Oberhand gewonnen; alle Elemente scheinen sich in unterschiedlichster Weise und in verschiedenste Richtungen zu bewegen. So erscheint das Bild wie der Momentzustand eines Geschehens, das sich im nächsten Augenblick schon wieder völlig verändern könnte. Es werden keine fixierten Formen in ihrem So-Sein gemalt, sondern Prozesse initiiert. Diese Malerei ist eine Kunst des Werdens, das heißt, des kontinuierlichen Aufscheinens und Verschwindens von Formpartikeln. Dazu passt der fluide Charakter der Farbe perfekt. Farbe zeigt sich bei Laura Aberham als ein flüssiges Material, das sich ver- und wegwischen, das sich in feine Sprühnebel auflösen oder in breiten Schlieren auftragen lässt oder – ein eher seltener Fall wie in „Karneval“ (2023) – auch Rinnspuren ausbilden kann, die, der Schwerkraft gehorchend, zum unteren Bildrand hin verlaufen.
Dass Laura Aberham als Rheinländerin eine Affinität zum Karneval hat, weiß jeder, der sie kennt. Dass sie der „fünften Jahreszeit“ ein stolzes sechs Quadratmeter messendes Großformat widmet, ist bezeichnend. Es handelt sich um ein turbulentes, ungemein farbstarkes Bild, in dem alle Primär- und Sekundärfarben ihren Auftritt haben. Vor dem kontraststarken Knäuel aus kurzen, breiten Pinselbahnen steigen rätselhafte, mit Sprayfarbe in Rosa oder Blau gehaltene Zeichen auf, die ein wenig an Vögel oder Wolken erinnern mögen. Die Tatsache, dass das „närrische Treiben“ auf diesem Bild nicht als All-Over gestaltet ist, sondern, besonders am rechten Bildrand, mit Freiflächen versehen ist, verstärkt die visuelle Präsenz und die Bewegtheit der Farbspuren ungemein. Den 2023 entstandenen Werken sieht man an, dass die Bildsprache von Laura Aberham spontaner, schneller und auch ein wenig ruppiger geworden ist. An die Stelle der elegant geschwungenen Wellenlinien treten nun häufiger zersplitterte und mit Kratzspuren versehene Farbverläufe, weil die Künstlerin es sich erlaubt, die Farbmassen auch einmal mit einem farbverkrusteten Brett statt mit einem besenbreiten Pinsel über die Fläche zu ziehen. Das Bild mit dem sprechenden Titel „Scratch“ ist hier ein gutes Beispiel.
Ein Blick auf die Stilmittel der Malerin wäre unvollständig ohne ein paar Worte zum Thema Bildlicht. Es fällt auf, dass aus den Hintergründen von Aberhams Arbeiten stets eine Grundhelligkeit hervorzuleuchten scheint. Selbst in einem so ungewöhnlich dunklen Bild wie „Nachtfahrt“ (2023) dringt ein sanftes Licht aus der Tiefe nach vorne durch. Es ist sicher nicht belanglos, dass die Künstlerin, Jahrgang 1994, zu einer Generation von „digital natives“ gehört, deren Bildsozialisation primär durch hinterleuchtete Flachbildschirme erfolgte. In ihrer Malerei scheint sich diese Prägung auszuwirken.
2020 hat Laura Aberham im Parkhaus der Kunsthalle Düsseldorf ein riesiges, zwei mal fünf Meter messendes Gemälde realisiert, das auf drei übereinandergelegte transparente Folien aus Weich-PVC gemalt war. Die weißgetünchte Wand leuchtete als rückwärtiges Bildlicht durch die Folien hindurch. Auch wenn – oder gerade weil – diese Arbeit in einer atypischen Technik ausgeführt war, brachte sie ein Grundprinzip ihrer Malerei sehr anschaulich zum Vorschein. Dass Laura Aberham ihre erste Einzelausstellung in der Münchner Galerie Wolfgang Jahn mit „Sunrise“ betitelt, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. In ihrer Malerei – und das ist ihr grundsätzlich positiver Zug – geht immer ein Licht auf.
Kann also – um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen – die abstrakte Malerei neue Wege beschreiten oder ist sie dazu verdammt, als „Zombie-Abstraktion“ nur historisch gewordene Ideen zu wiederholen? Mit Blick auf Laura Aberhams kraftvolle, vitale, das Betrachterauge in unabschließbare 160 x 130 cm Bewegung versetzende Bilder beantwortet sich die Frage von selbst. Diese Malerei zehrt nicht von längst verblassten, „untoten“ Bildkonzepten, sondern speist sich aus der unerschöpflichen Kraft der Farbe und aus der Dynamik und Spontaneität des Malprozesses selbst.
* Jerry Saltz: Zombies on the Walls: Why Does So Much New Abstraction Look the Same?, in: New York Magazine, June 16, 2014.
Peter Lodermeyer