Mit der Ausstellung „Editionen & Papier“ zeigt die Galerie Wolfgang Jahn neun künstlerische Positionen, in denen Ideen und Bildvorstellungen unmittelbar auf Papier Gestalt gewinnen. Papier ist hier nicht Vorstufe, sondern eigenständiger Bildträger. Die Werkschau vereint international etablierte Kunstschaffende mit jüngeren profilierten Positionen. Gezeigt werden Arbeiten in unterschiedlichen Techniken und Handschriften – von gestisch prozesshaften Malereien über expressiv figurative Szenen bis hin zu reduzierten, konstruktiven Setzungen. Zeichnung, Pastell, Acryl, Mischtechnik, Holzschnitt, Pigmentdruck und experimentelle Verfahren, etwa Jiří Georg Dokoupils Seifenblasenbilder, veranschaulichen, wie individuell sich Arbeitsweise und Handschrift auf Papier entfalten.
Besonders anschaulich wird dies dort, wo das Bild wesentlich aus der Bewegung der Farbe entsteht wie in den Arbeiten von Jiří Georg Dokoupil, Hubert Scheibl und Laura Aberham. Bei Dokoupil bilden transluzide Seifenblasen die Grundlage der Bildentstehung. Schillernde, marmorierte Ablagerungen in intensiven Farbwerten oder nuancierten Blautönen legen sich als Farbgebilde auf das Papier, deren klare Konturen aus den Rändern der zerplatzenden Blasen hervorgehen. Die organischen, an zellartige Strukturen erinnernden Formen überlagern und durchdringen einander in einem rhythmischen Tanz, mit der Leichtigkeit eines Moments, der im nächsten Augenblick verschwinden könnte.
Bei Hubert Scheibl sind es fließende Farbschichten, aus denen sich die Bildräume entwickeln. Zart durchscheinende Verläufe treffen auf dichtere, teils klecksartige Verdichtungen. Entlang einer Achse organisierte Formationen erinnern an Spiegelungen, ohne streng symmetrisch zu sein; immer wieder klingt eine Nähe zu Rorschach-Figuren an, in denen sich spontane Deutungen an symmetrische Farbformen knüpfen. Titel wie „Plants & Murders“ verweisen auf Wachstumsprozesse in der Natur, auf den Kreislauf von Entstehen und Vergehen. In Arbeiten wie „Ones“ bündeln sich die Farbkörper zu zentralen Gebilden, die in den Bildraum hineinwachsen und in Schichtungen und Überlagerungen zwischen Ausdehnung und Formgebung oszillieren.
Laura Aberham führt diesen prozesshaften Ansatz in eine betont gestische Malerei auf Papier. Die Nähe zu Scheibls „Ones“ zeigt sich in der Anlage der Farbformen und im um ein Zentrum kreisenden Bewegungsfeld, zugleich setzt sie andere Akzente. Breite Pinselspuren ziehen in Bögen und Gegenbewegungen über das Blatt, überlagern einander, brechen ab und werden neu angesetzt. Leuchtende Rot-, Orange- und Blautöne stehen neben gedeckteren Grau- und Violettnuancen. Gestische Spuren ballen sich zu Farbnestern, durchzogen von Linien und Setzungen in Ölkreide, die wie feine Nähte die Flächen verbinden. Verdichtungen, Richtungswechsel und Umschlagmomente der Malerei werden so direkt auf dem Papier lesbar.
Eine andere Form der Unmittelbarkeit zeigt sich bei Rainer Fetting und Helmut Middendorf. Beide Blätter gehören in den Kontext der Berliner Malerei der „Jungen Wilden“ und zeigen deren heftig gesteigerte Malerei auf Papier. In Rainer Fettings „Ricky“ (1983) steht eine Figur frontal vor einem farbigen Hintergrund, als blicke sie in einen farbenverzerrenden Spiegel. Der Körper entsteht aus breiten, energischen Farbflächen; Gesicht und Haltung bleiben skizzenhaft, die Präsenz der Figur ergibt sich aus Kontrast und Rhythmus der Pinselzüge. Es geht um das schnelle Erfassen von Gestalt und Stimmung, nicht um detaillierte Ausarbeitung. Die Reduktion auf das Wesentliche verstärkt den Eindruck eines malerischen Psychogramms.
Helmut Middendorfs „OT (Nacht)“ (1979) variiert diese Haltung in dunklerer Tonlage. Die schmale Figur vor einem kontrastreichen Bildraum, die in einem Zug gesetzte Dispersionfarbe, die scharfe Trennung von Hell und Dunkel: all dies erzeugt eine nächtliche, urbane Spannung. In der Rohheit des Farbauftrags und der kantigen Zeichnung zeigt sich eine bewusst ungeschönte, nonkonforme Bildsprache, die sich gegen glättende Konventionen richtet.
Die in Berlin entwickelte Haltung einer heftig gesteigerten Malerei findet in den Arbeiten Bernd Zimmers eine parallele Ausprägung. Zimmer ist mit der Münchner „Heftigen Malerei“ verbunden; er überträgt den energischen Farbauftrag auf Beobachtungen von Landschaft, Licht und Vegetation. In den Serien „Himmel“, „Reflexion“ und „Blühend“ werden vertikale Bahnen, horizontale Lichtfelder und rhythmisierte Übergänge zu Trägern von Wahrnehmung. Natur erscheint nicht als topografisch genaues Motiv, sondern als abstrahierte Verdichtung von Eindrücken, die wie das Vage einer Erinnerung zu einem bewusst offen gehaltenen Gesamtbild zusammenfinden. Im Holzschnitt „Im Fluss“ wird dieser Ansatz in eine grafische Form überführt, in der Bewegung als pulsierender, strudelartiger Rhythmus der Schnitte erfahrbar wird.
Zwischen den expressiv gesteigerten Malereien einerseits und den stärker konstruktiven oder flächig reduzierten Setzungen andererseits nehmen die Arbeiten von Carsten Fock eine atmosphärische Zwischenposition ein. Die Blätter von 2022, Pastellkreide auf Papier, zeigen Schichtungen von Farbe, in denen deutliche Horizontlinien den Raum gliedern, ohne eine konkrete Topografie festzuschreiben. In einem kleineren Format entsteht fast der Eindruck einer herbstlichen Landschaft mit aufsteigenden Drachen; in einem größeren Hochformat verdunkelt sich die Stimmung zu einem Bild aus schwarzer „Meer“-Zone und verhangenem Himmel. Helle und dunklere Bereiche liegen übereinander, verriebene Partien treffen auf feine Striche, kleinere Farbakzente setzen luftig schwebende Zeichen. Gerade weil die Blätter so zart und filigran gearbeitet sind, wirken sie zerbrechlich, wie in einem Moment des Übergangs festgehalten. Die Motive scheinen in der Schwebe zu sein; daraus entsteht eine leise Unruhe, ein vorsichtiges Offenlassen, das den Arbeiten ihre Spannung verleiht.
Deutlich anders greifen Alex Katz und Imi Knoebel das Medium Papier beziehungsweise den flachen Bildträger auf. Hier rücken klare Entscheidungen über Form und Fläche in den Vordergrund. Bei Alex Katz spannt sich in der Ausstellung ein Bogen von frühen Blättern wie „Vincent“ und „O. T. Portrait“ bis zu den Pigmentdrucken „Straw Hat 3“ und „Sunrise 1“ von 2022. Schon in den Zeichnungen erscheint der Kopf im Nahbereich, der Bildausschnitt ist eng gewählt, einzelne Partien sind angeschnitten. Mit wenigen, zurückhaltenden Bleistiftlinien entwickelt Katz zarte Umrissporträts, in denen das Weiß des Papiers einen großen Teil der Bildwirkung übernimmt. Die späteren Pigmentdrucke führen diese Konzentration in eine bewusst plakative, fast grafische Sprache über. Frauenporträts füllen den Bildraum, die Hintergründe sind auf wenige klar getrennte Farbflächen reduziert. Modulation und Detail sind weitgehend zurückgenommen; die Köpfe erscheinen wie großformatige Zeichen, die an die Ästhetik von Billboards erinnern. Katz interessiert weniger die psychologische Durchdringung der Figuren als ihre Erscheinung im Moment. Aus alltäglichen Motiven werden Bildzeichen, in denen Nähe, Distanz und Oberfläche neu austariert werden.
Imi Knoebels „Anima Mundi“- Arbeiten setzen dieser Figur- und Farbfeldmalerei die Strenge einer konstruktiven Abstraktion entgegen. In den beiden Blättern der Serie werden Farbe und Form auf einfache geometrische Elemente wie Rechtecke und Balken reduziert. Acrylfarbe wird auf eine glatte Kunststofffolie gemalt, deren Oberfläche den Tönen eine hohe Dichte und Leuchtkraft verleiht. Entscheidend ist das Verhältnis der Farbwerte zueinander: helle und dunklere, gedeckte und gesättigte Töne werden so gesetzt, dass sich ein ausbalanciertes, spannungsvolles Gefüge ergibt. Die Felder stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind durch Proportion, Kantenverlauf und leichte Versätze miteinander verschränkt. Der Serientitel „Anima Mundi“ – wörtlich „Weltseele“ – deutet an, dass es Knoebel nicht um reine Formspielerei geht, sondern um die Vorstellung eines inneren Zusammenhangs, der sich im präzisen Ausbalancieren der Farb- und Formbeziehungen spiegelt.
In der Zusammenschau wird sichtbar, wie unterschiedlich sich künstlerische Ansätze auf Papier entfalten, vom kalkulierten Zufall in Farbprozessen über gestische und figurative Zuspitzungen bis hin zu landschaftlichen Anklängen und konstruktiven Ordnungen. Gemeinsam ist den gezeigten Arbeiten, dass das Papier als sensibler Träger jede Entscheidung in Farbe, Linie und Form unmittelbar zeigt, in Malerei, Zeichnung, Druck und experimentellen Verfahren. Papier ist der Ort, an dem ein Gedanke sichtbar wird. In „Editionen & Papier“ lässt sich verfolgen, wie vielfältig diese Sichtbarkeit heute aussehen kann.
Dr. Veit Ziegelmaier
Fotocredit: Produktion Pitz