Michelle Jezierski - Lapse

05.09.2024 - 26.10.2024

Bilder der Ausstellung


Beschreibung

Mit der Ausstellung “Lapse“ zeigt die Galerie Wolfgang Jahn zum zweiten Mal eine Personale der in Berlin geborenen amerikanischen Künstlerin Michelle Jezierski. Jezierski lebt und arbeitet in Berlin und studierte u.a. bei Tony Cragg an der UdK sowie an der Cooper Union in New York. In ihren Bildern hat sie zu einer unverwechselbaren Bildsprache gefunden, die stimmungsvoll aufgeladene Landschaftsmalereien mit durchscheinenden Streifenelementen und geometrisch-abstrakten Strukturen durchzieht. Die Werkschau präsentiert aktuelle Arbeiten aus ihrem Schaffen, in denen sie ihre individuelle Technik und Stilistik in immer neuen Varianten zum Ausdruck bringt. Bis vor kurzem waren die hier gezeigten Malereien Teil der Einzelausstellung “Verge“ in der Schwartzschen Villa in Berlin und sind im begleitenden Katalog publiziert.

Michelle Jezierskis Bilder faszinieren durch simultane Bildebenen. Ausgangspunkt für ihre Kompositionen sind frei gestaltete figurative Farblandschaften, die jedoch durch das Bild überlagernde und durchdringende transparente Streifen und gitterartige Strukturen rhythmisch gegliedert werden. Diese bildimmanenten abstrakten Elemente durchtrennen die Landstriche in zuweilen perspektivisch zueinander versetzte Ansichten, die dergestalt in ihrem finalen Remix auf der Bildfläche irritieren und verstören. Fast mag man bei Jezierskis Arbeiten an Vexierbilder denken, die zwei Bildbotschaften bereithalten - nämlich die des Motivs der figurativen Landschaft und die ihrer geometrischen Zergliederung -  dabei aber weniger ein „Entweder-Oder“ in der Betrachtung ermöglichen, sondern vielmehr ein „Sowohl-als-auch“, was sie wiederum ihrer eindeutigen und „eindimensionalen“ ausgerichteten Lesbarkeit beraubt. Jezierski selbst spricht von einer malerischen Verbindung aus „Geste und Geometrie“, wobei diese gegensätzlichen Begriffe nicht in Koexistenz auf einer Bildfläche nebeneinander existieren, sondern erst durch das Auffächern des Bildraums in mehrere Ebenen und Realitäten entstehen.

Ihre menschenleeren Landschaften sind gestische Farbkompositionen, die Landschaftselemente der Natur suggerieren, so etwa prächtige Wolkenformationen, die über Landstriche hinwegziehen. In ihrem zuweilen dünnflüssigen, durchscheinenden Farbauftrag erinnern die in Öl- und Acryltechnik gefertigten Bilder an Aquarelle, was dem Bildmotiv, zusammen mit den oftmals pastelligen Farbtönen, eine Leichtigkeit verleiht und auch den ephemeren Charakter von Lichtstimmungen und atmosphärischen Momenten Rechnung trägt. Immer wieder hat man das Gefühl, dass Himmel und Erde als Farben ineinanderfließen und sich zu einem Ganzen verbinden. Jezierskis Landschaften lassen sich topografisch nicht zuordnen. Vielmehr sind sie abstrahierte Farbkompositionen, die in ihrer Ausführung und Kolorierung Ausdruck von empfundenen Gemütszuständen werden, sodass sie sich letztlich als atmosphärisch aufgeladene innere Seelenlandschaften verstehen lassen.

Durch die Aufsplitterung und Auffächerung durch transparent erscheinende Streifenelemente, die wie vertikale zuweilen auch diagonale Zäsuren wirken, kommt es zu einem Verfremdungseffekt, der das einheitliche Bildgefüge aus den Fugen geraten lässt. Wie gelegentliche Störelemente bei Fernsehübertragungen in der Bildqualität oder beim Abspielen alter VHS-Videokassetten erscheint das dargebotene Bild verzerrt und raubt einem die Illusion der eigentlichen Darstellung von Landschaft. Das präsentierte Motiv stimmungsvoller, wenn nicht gar pathetisch aufgeladener Landstriche wird auf diese Weise dekonstruiert, in seine Einzelelemente zerlegt und somit in seiner Ästhetik und Wirkung hinterfragt. Die Matrix, die, wie in der gleichnamigen Kinofilmreihe, Realität vorgaukelt, erhält Risse. Jezierski erzeugt diesen Effekt, indem sie die Landschaft wie Faltungen aufbricht, die Anschlüsse zueinander versetzt, sodass die Elemente und horizontalen Linien in den erzeugten Bildstreifen gegeneinander verschoben werden. Auch farblich setzt sie einzelne Passagen immer wieder voneinander ab, indem hellere Bereiche auf dunklere Farbtöne der gleichen Farbigkeit in den angrenzenden Feldern treffen. So hat man das Gefühl eines visuellen Drunter und Drüber, wo wie in einer Art Webmuster immer wieder der Hintergrund in den Vordergrund rückt und einzelne Bildelemente imaginär vor und zurückspringen. 

Durch diesen Kunstgriff gelingt es Michelle Jezierski, das Raum-Zeit-Kontinuum im Bild aufzulösen. Ihre wie durch Nähte zusammengefügten Bildelemente vereinen verschiedene Perspektiven, die unterschiedliche Ansichten zu unterschiedlichen Zeitpunkten suggerieren, zu einem zusammengesetzten Ganzen. Man mag dabei an die filmische Stopp-Motion Technik aus den Anfängen des Animationsfilms denken, die Bewegung weniger durch sanfte Übergänge als vielmehr durch sprunghafte Anschlüsse in Folge von Fehlstellen erzeugt. Letztlich entspricht Jezierskis Auffächern in motivische Einzelelemente auch genau dem Vorgehen unserer Wahrnehmung, wo wir aus unterschiedlichen Eindrücken, die wir über einen bestimmten zeitlichen Verlauf machen, ein Bild im Kopf zusammensetzen und als Erinnerung abspeichern.

Neben den Streifenbildern verwendet die Künstlerin in ihrer aktuellen Werkserie auch eine durchscheinende Gitterstruktur, die die Bildfläche und die darauf ausgeführte Landschaft in Kacheln unterteilt und die vertikale Ausrichtung der Streifen um die horizontale Richtung zu einem Quadrat erweitert. Manchmal legt sich die Gitterstruktur, deren Einzelelemente auch als einzelne Pixel assoziiert werden können, über das Bildmotiv, wobei an den Fugen, die wie Nähte wirken, sich ein farbliches Eigenleben in changierenden Farbtönen entwickelt, sodass farbige Linien das Bild in einzelne Bestandteile untergliedern. Und dann gibt es wieder Bildpassagen, die sich regelrecht über die Gitterstruktur, die an diesen Stellen zum Mittler zwischen Vorder- und Hintergrund wird, legen und bruchstückhafte anders geartete Bildelemente ohne direkten Kontext im unmittelbaren Vordergrund andeuten. Möglicherweise lässt sich in der Gitterstruktur auch eine Reminiszenz an die Malerei erkennen, war und ist das Gitter doch ein probates Mittel, ein zugrundeliegendes Motiv maßstabsgetreu auf eine größere Fläche wie etwa eine Wand zu übertragen.

Jezierski betont in Gesprächen immer wieder, dass es ihr um Brüchigkeit geht, um die Nahtstellen, die etwas verbinden und dennoch zur Trennlinie werden. So interessiert sie auch der Moment, an dem sich etwas zu entgleiten anschickt, also jener Kipppunkt oder auch jene Sollbruchstelle, die wie ein vorübergehender Zwischenstand zwischen zwei Einstellungen und Zuständen fungiert als ein momentanes “Dazwischen“, an dem sich etwas entscheidet und auseinanderzufallen droht.

Auch der englische Ausstellungstitel “Lapse“ rekurriert auf das Momenthafte, bzw. trägt dem Aspekt des Zeitlichen und damit auch der Bildsprache Jezierskis Rechnung. So lässt sich der Begriff mit „Intervall“ oder „Zeitablauf“ übersetzen. Auf Ihre Bilder übertragen, thematisiert der Titel damit die Gleichzeitigkeit verschiedener Momente, die eigentlich zeitlich zueinander versetzt sind.


Dr. Veit Ziegelmaier