Wann formen wir, wann werden wir geformt? Und wer formt eigentlich? Die hintersinnige Ausstellung BRAINWASHED von Michael Sailstorfer legt Fährten aus. Zum Gehirn, zum Bewusstsein, aber auch zu der Frage, wie viel Eigenleben und Handlungsmacht in der Materie selbst steckt.
Der Begriff BRAINWASHED weist in der Regel auf einen Vorgang hin, der mit Beeinflussung und Manipulation einhergeht. Ein Gehirn wäscht das andere. Eine Person, oder Instanz, versucht den Willen einer anderen zu kontrollieren, umzugestalten, bis die betroffene Person eben zu keiner eigenmächtigen Handlung mehr fähig ist.
Michael Sailstorfer, der zu den bedeutendsten Bildhauern und Konzeptkünstlern seiner Generation gehört, ergründet in seiner Ausstellung BRAINWASHED gegenseitige Einflussnahmen, unterwandert sie spielerisch und wirft Fragen zum Entstehen elementarer Handlungen, von Aktivität und Passivität, und letztlich auch von Freiheit und Determination auf. Sailstorfer geht es um die Entgrenzung der Skulptur in der Zeit – durch Prozess, Transformation und Bewegung.
In der Werkserie HEAVY EYES untersucht Sailstorfer die schöpferische Kraft von Materialien, die miteinander reagieren. Der Künstler spannt eine dünne Folie aus Bleibleich über einen Holzrahmen und bemalt die Fläche mit Lidschatten. Er trägt also alltägliche Kosmetik auf, die im Supermarkt unter Namen wie „Heritage Rouge“ oder „Blue Brown“ erhältlich ist. Die ungewöhnliche Kombination löst einen Reigen an Metaphern und Materialvorgängen aus.
Beim Einsatz des Schwermetalls Blei schwingen Vorstellungen von Gewicht und starker Belastung mit. Blei ist giftig für uns Menschen, zudem erinnert es an Schwermut und Gemütseintrübung. In künstlerischen Positionen wurde das Schwermetall unter anderem zur Erinnerungsarbeit (Joseph Beuys) und zur Auratisierung (Anselm Kiefer) eingesetzt oder fand in Günther Förgs „Bleibildern“ eine besondere Verwendung. Sailstorfer knüpft an die kunsthistorische Auseinandersetzung an, um allerdings den laufenden Prozess in den Vordergrund zu rücken.
In HEAVY EYES wiederholt Sailstorfer geometrische Elemente, gleich abstrakter Malerei. Der serielle Charakter der Werke wirkt dadurch bestärkt. Gleichzeitig wird dieser Eindruck mehrfach gegen den Strich gebürstet. Das Blei sträubt sich gegen die vorschnelle Bemalung, gegen jeden noch so kleinen Tusch, aufgrund seiner schwierigen Stofflichkeit, als eines der dichtesten Metalle überhaupt. Darüber hinaus wird der Lidschatten und dessen Funktion in dem Prozess zweckentfremdet. Dient er doch üblicherweise dazu, die Träger*innen aus der Gleichartigkeit hervortreten zu lassen und einen individuellen Ausdruck des Schönen zu vervollkommnen.
Zuletzt zeitigen sich die Materialien selbst. Das Blei reagiert rastlos mit der Luft und geht zugleich eine chemische Verbindung mit der aufgetragenen Farbe ein. Was entsteht dabei? Wandlung, ein neuer Kreislauf oder Verfall? Im Sinne der Philosophin Jane Benett werden die Materialien lebhaft, weil sie ihr stoffliches Potential ausschöpfen. Hier schließt Sailstorfers offener Skulpturbegriff an Diskurse des Neuen Materialismus oder der Politischen Ökologie an. Beide Strömungen schreiben nicht nur dem Menschen aktive Handlungsmacht zu, sondern auch Lebewesen, ja den Sachen selbst. Was würde sich verändern, wenn wir Menschen eingestehen, dass auch Materie handelt? Und wir sie nicht länger als starr und unbelebt wahrnehmen?
Die Werkgruppe HEAVY TEARS knüpft in diese Bearbeitungsweise mit Blei an: Mit grellem Lippenstift wurde auf bleiernem Grund eine großformatige Träne gebannt. Die Träne als Sinnbild der emotionalen Entäußerung geht eine chemische Verbindung mit dem scheinbar toxischen Schwermetall ein. In vielen Werkzusammenhängen hat Sailstorfer den transitorischen Charakter von Tränen untersucht, von der flüssigen Figur, die Körpergrenzen von innen nach außen überwindet, bis hin zur Abrissbirne in Tränenform, die ein Haus im Spessart zertrümmert.
In TRÄNENTROCKNER verarbeitet er die existenzielle Möglichkeit zur Wandlung in der Sprache des Readymade. Sailstorfer hat dazu Altglas innerhalb eines Stoffkreislaufs neu blasen und von Hand in Tränenform bringen lassen. Die frühere Bierflasche ist einer Glasträne gewichen, die nun auf einem festen Trocknergestell hängt. Durch Schmelzen hat das amorphe Glas die Gestalt gewandelt und erzählt nun in kollektiver Aufhängung erneut von dem Möglichkeitsvorrat, der in ihm schlummert. Was passiert eigentlich, wenn alle Tränen getrocknet sind, wie der Werktitel andeutet?
Das assoziative Spiel zwischen Inhalt und Materialität öffnet auch in der Skulptur BRAIN I2 einen weiten Denkraum. Das kopfgroße Knäuel aus etwa 35 Meter langem Tau, lässt unmittelbar an die charakteristischen Windungen in unserem Gehirn denken. Diese wellige Landschaft mit ihren tiefen Furchen vermittelt unsere Wahrnehmungen, unser Denken, Fühlen und Handeln. Sie wird von der Großhirnrinde geformt, der so genannten grauen Substanz – einer zwei bis vier Millimeter dicken Schicht voller Nervenzellen. Sailstorfer materialisiert diese graue Substanz mit Aluminium; ein leitendes, aber auch paramagnetische Metall, durch das innere Ströme hindurchfließen können, das aber auch von äußeren Strömen beeinflusst werden kann, was erneut über Einflussnahme und Interdependenz nachdenken lässt.
Der Sockel deutet auf eine herausgehobene Stellung des Gehirns hin. Gleichzeitig schleicht sich der Eindruck ein, dass gerade diese Stabilisierung der Form alles Lebendige entweichen lässt. Auch weil Gehirne, und darauf aufbauend Nervensysteme, in ihrer ursprünglichen Funktion in der Evolution nur auftauchten, um Bewegung zu ermöglichen, wie der Neurologe Gerd Kempermann erforscht hat.
BRAIN I2 wirft unter anderem die Frage auf, inwiefern es uns überhaupt gelingen kann, ein Bild von lebendigen Prozessen machen können?
Daran schließt auch die Werkserie KNOTEN an, die über das Wesen von Binden und Knüpfen nachdenken lässt. Konstitutiv für einen Knoten sei, bemerkt der Anthropologe Tim Ingold, dass er nachlaufende Enden erschaffe, die sich auf die Suche nach neuen Verbindungen machen. Darüber hinaus entsteht ein Knoten nie direkt am Ende und ist nie das Ende, sondern eine schwebende, liminale Form. Der Knoten markiert sozusagen einen Zustand des Dazwischen – einerseits erinnert er an sein Entstehen, das Binden einer Schlaufe, also an eine zirkuläre Geste, und andererseits wohnt in ihm die Möglichkeit inne, sich wieder zu lösen.
In der Seefahrt wird etwa durch das Lösen eines Knotens Energie freigesetzt. Wind kommt zur Entfaltung. In der Antike wurde der Form des Knotens eine magische Wirkung zugesprochen. In der Architektur bedeutet Knoten vor allem Verdichtung. Im Bereich menschlicher Beziehungen schließlich, steht das Knoten für Verbinden, Verbindlichkeit und allerlei Verstrickungen. Wobei erstaunlich ist, dass die Linien am Ursprung des Knotens zwar verbunden sind, aber eigentlich nur auseinander wachsen können. Liegt nicht genau darin das Versprechen: In der Entdeckung anderer Enden, mit denen sich neu zu verbinden gilt?
Sailstorfer macht aus der Performanz des Knotens ein rätselhaftes Vexierspiel. Einerseits führt er uns vor Augen, dass bei der Verknotung widersprüchliche Spannungs- und Reibungskräfte, neue Formen erschaffen, die geheimnisvoll anmuten. Andererseits lässt er darüber sinnieren, wie Formen innerhalb eines solchen Kräftefelds an ihrer Stelle gehalten werden. Kurzum: Was erschafft Verbindung, was hält sie fest? Spannung erzeugt dabei die Patinierung der Arbeiten durch Bronze, was den skulpturalen Charakter bestärkt, und der blockartige Sockel. Der Block ist geradezu das Gegenstück des Knotens. Denn eine von Blöcken zusammengesetzte Welt kann kein Leben als Geflecht beherbergen. Nichts könnte sich mehr bewegen und wachsen und verbinden.
Bei der Arbeit VERSUCHSREAKTOR spielt Bewegung im Raum eine zentrale Rolle. Mikrofone wurden in Beton, Stahl und in Kugeln aus Epoxid- sowie Polyurethanharz gegossen und mit einem schwarzen Aktivlautsprecher verbunden. Die Anordnung erinnert an ein sonderbares Planetensystem, die durch eine unbestimmte Kraft gebunden zu sein scheint. Die Arbeit interagiert dabei mit den Menschen, dem Raum, der Umgebung. Über die Schwingungen im Boden nehmen Mikrofonkugeln Bewegungen im Raum wahr und geben sie zeitlich versetzt über den Lautsprecher wieder. Schon kleinste Bewegungen können den Raum mit einem tiefen Dröhnen füllen. Architektur und Außengeräusche können zudem die Tonlage ändern und die Klangwelt verstärken. Bei Versuchsreaktor wandelt sich Unsichtbares, ein Fluss von Bewegungen, zu einem raumfüllenden Ausdruck. VERSUCHSREAKTOR erinnert dabei an die kinetische Kunst der Sechziger und Siebziger Jahre, die Sein um den Prozess des Handelns und der Performativität erweitert.
Insgesamt ist Sailstorfers Umgang mit Zeit und Raum, Prozessualität und Ausdehnung so spannungsgeladen, dass seine Arbeiten in jedem Augenblick einen neuen spielerischen Sinn entwickeln können. Doppelbödig, leicht, mal von hintersinnigem Witz, mal von expressiver Wucht, umgibt seine Werk ein Zustand der semantischen Schwebe, eine Ahnung der Wandlung, die sich einer endgültigen Einordnung entzieht.
Sailstorfers Umgang mit Materialität kann zumal als hintergründige Kritik an kapitalistischen Praktiken gelesen werden, Dingen einfach fixe Funktionen zuzuschreiben und gleichzeitig den Begriff der Plastizität zu pervertieren – und mit Flexibilität zu verwechseln. Plastizität ist laut der Philosophin Catherina Malabou „das Vermögen, geformt zu werden“. Wandelbar zu bleiben, eben auch unter Druck oder im Widerstand. Aber dennoch formbar. Sind Menschen wie Materie also plastisch, und gerade nicht flexibel? Können wir endlos hin- und hergebogen werden, wie Ausbeutungslogiken es nahelegen? Oder ist es nicht so, dass plastisches Material, einmal geformt, nie mehr zu seiner ursprünglichen Form zurückkann? Was ergibt sich daraus? Ein anderes Verhältnis von Autonomie und Verantwortung. Denn müssten wir dann nicht stärker jedem Lebewesen und lebender Materie ihre eigene Entfaltungsmacht, ihre Agency, zusprechen – und gleichzeitig verantwortungsvoller mit gestalterischen Eingriffen umgehen?
Indem Sailstorfer auf einen poetischen Zwischenraum in der Skulptur hinarbeitet, der prozessuale Offenheit verspricht und fest gefügte Daseinszwecke destabilisiert, ermöglicht er darüber nachzudenken, welchen Möglichkeitsräume hinter der Vorherrschaft von Kategorien stecken, wieviel Improvisation im Bestimmten liegt, wieviel Werden im Sein. Die Ausstellung BRAINWASHED lädt dazu ein, die Fragen plastisch werden zu lassen: Wann formen wir, wann werden wir geformt? Und wer formt eigentlich?
Frank Steinhofer