Hubert Scheibl - In den Schnee geschrieben

02.06.2022 - 30.07.2022

Bilder der Ausstellung


Beschreibung

Mit der Ausstellung „In den Schnee geschrieben“ präsentiert die Galerie Wolfgang Jahn in München aktuelle Arbeiten des preisgekrönten Österreichers Hubert Scheibl, der unlängst seinen 70. Geburtstag feierte. Die hauptsächlich während der letzten zwei Jahre in den Zeiten des Lockdowns entstandenen Werke lassen neue Akzente innerhalb seines langjährigen facettenreichen Schaffens erkennen.

Scheibls vielschichtige und komplex angelegte Farbräume und -kompositionen verweigern sich bewusst einer eindeutigen Lesart. Sie machen uns Staunen, indem sie sich die Eigenständigkeit des „Noch-nicht-Dargestellten“ und die Neugier des „Nicht-Zuordenbaren“ bewahren. Seine Abstraktionen zeigen uns einen Kosmos vielfältiger Sinneseindrücke. Und dennoch bilden sie etwas ab, was sich kaum mit konventionellen Mitteln erreichen lässt. Denn die kreativen Schöpfungen lassen auch immer wieder Rückschlüsse auf die Schöpfung der Natur und des Lebens mit den zyklischen Prozessen der Entstehung, des allmählichen Werdens und des Vergehens zu, wobei dies sich rein über eine intuitive Wahrnehmung vermittelt.

So ist man beim Betrachten seiner Bilder immer wieder geneigt, in malerischen Kürzeln, Ritzungen und Farbformationen Referenzen zur Wirklichkeit zu erahnen, die sich rein assoziativ mit vegetabilen Strukturen, Blütenkelchen, zellartigen Formationen oder etwa auf dem Meer treibenden Eisschollen verknüpfen lassen, ohne dass die Werke jedoch dafür allzu konkrete Anhaltspunkte aufweisen. 

Man mag in diesem Zusammenhang an eine Überlieferung des großen Renaissance-Meisters Leonardo da Vincis denken, der bereits vor über 500 Jahren, zu einem Zeitpunkt als die Entwicklung der abstrakten Kunst noch in weiter Ferne lag, ein Experiment vorschlug: Man möge sich doch einmal der intensiven Betrachtung von Flecken- und Wolkenstrukturen widmen, da man mit dem im Laufe des Lebens erworbenen Wissen und der damit einhergehenden Seherfahrung auch in deren Formationen Vorstellungsbilder entdecken kann. 

Doch lässt Scheibl den Betrachter nicht gänzlich mit seiner Imagination allein. So wählt er für seine Bildern immer wieder sinnstiftende Titel wie etwa „Euglena“. Dabei handelt es sich um die biologische Bezeichnung eines unter dem deutschen Namen „Augentierchen“ bekannten Einzellers. Eine andere Arbeit ist mit „Kalben“ bezeichnet, dem Fachwort für eine von einem Gletscher abgebrochene schwimmende Eismasse. Auch für die titelgebende Werkserie der Ausstellung „In den Schnee geschrieben“ wählt Scheibl einen Titel, der zusammen mit den vorangegangenen, eine assoziative Brücke zur gegenständlichen Welt schlägt.

Letztere Titelgebung verweist nicht nur auf die Natur und ihr Phänomen „Schnee“, das von Scheibl in den Bildern der Serie in vordergründig weiß gehaltenen Kompositionen wiedergegeben wird, unter und über deren weißen Malschicht die nicht an Formen gebundenen Farben des Frühlings und des Sommers sich zu behaupten versuchen. Die Bezeichnung lässt auch Rückschlüsse auf den ephemeren Charakter allen Seins schließen, denn was in Schnee geschrieben wurde, ist nicht in Stein gehauen und daher nur eine vorübergehende Momentaufnahme, die Scheibl jedoch in seinen Werken zu konservieren sucht.   

Scheibls Abstraktionen basieren zumeist auf vielen übereinander liegenden Farbschichten, die sich gegenseitig durchdringen, zuweilen wie in einem freien Webmuster verflechten, überlagern, ergänzen und ersetzen und in einem permanenten Prozess der Umwälzung miteinander ringen, ehe die Komposition in einem stimmigen Moment zum letzten Ausdruck findet, der dennoch die Dynamik des Malprozesses mit der Rakel spürbar vermittelt.

Auch in seiner Bilderserie „Ones“ ist es vor allem die Bewegung, die Scheibl im statischen Medium des Bildes in herausfordernder Weise festzuhalten sucht. Vor farblich changierenden Hintergründen, die manchmal die Assoziation zum Himmelsphänomen der Polarlichter aufkommen lassen, setzt Scheibl mit einer breiten farbgetränkten Quast malerische Bewegungsschleifen, die in nur einem einzigen Schwung ohne jegliche Unterbrechung gesetzt werden müssen, ein Umstand, der auch im Titel widergespiegelt wird. Diese Farbbänder ändern abrupt ihre Richtung von oben nach unten und links und rechts bis V oder U-förmige Strukturen entstehen, die in ihrer Präsenz frei im Raum schwingen und in ihrer gekonnten Drehung der Laufrichtung, die ein malerisches Davor und Dahinter suggeriert, gänzlich räumlich wirken. Dergestalt muten sie wie ein flackerndes Band im Wind an, ohne jedoch konkret darauf zu verweisen. Wie der Wachstumsprozess einer Pflanze in einer Zeitrafferaufnahme expandiert und entfaltet sich hier eine raumgreifende Form, die zu einer eindrücklichen Präsenz wird, ganz so wie ein Schmetterling nach seiner Entpuppung.

In den nach einem Einzeller benannten „Euglena“-Bildern schüttet Scheibl auf ähnlich angelegte Hintergründe verflüssigte Silberfarbe auf die am Atelierboden liegende Leinwand und formt durch Verteilung und Bewegung des Bildträgers im Modus des kalkulierten Zufalls auseinanderdriftende Fließformen, die letztlich an das Erscheinungsbild von Amöben erinnern, denen er mit augenähnlichen Strukturen sogar ein Gesicht zu verleihen vermag. 

Auch in der grafischen Serie „Einzeller auf Reisen“, in der der Künstler mit schwungvollen Pinselbewegungen und aus Faltungen resultierenden Farbabdrucken, symmetrische Gebilde entstehen lässt, die entfernt an Blütenkelche und zellulare Strukturen erinnern, sind es die einfachen und am Ursprung stehenden Lebensformen, denen Scheibl sein Augenmerk widmet. Der Mensch und seine Spuren kommen bei Scheibl nicht vor. Lieber, so mag man den Eindruck haben, thematisiert er malerisch die Zeit und Zustände vor ihm oder ohne ihn. Vielleicht sieht sich Scheibl als Künstler daher selbst nur bescheiden als ein „Augentierchen“.

 

Dr. Veit Ziegelmaier